Der Fall Ursula Herrmann – Ein Kind, eine Kiste, ein Versagen

Als der Fall 1982 das erste Mal bei Aktenzeichen XY lief, war ich sechs Jahre alt.
Wir Kinder sahen das damals regelmäßig: Spannung, Gänsehaut, die Welt als Puzzle, das man lösen muss.
Fast alles ist verblasst – nur das Bild nicht: das Foto des Mädchens, das Bild der Holzkiste, das Loch im Waldboden.
Vierzig Jahre später bleibt dieses Bild: ein Kind, eine Kiste – und die Frage, wer es wirklich getan hat.


1. Kurzfassung des Geschehens

Am 15. September 1981 verschwand die zehnjährige Ursula Herrmann auf dem Heimweg vom Turnunterricht.
Es folgte die Forderung nach zwei Millionen Mark Lösegeld. Dann Funkstille.

Sie wurde Wochen später in einer im Wald vergrabenen, sorgfältig gebauten Holzkiste gefunden.
Lampe, Radio, Verpflegung – doch die Belüftung funktionierte nicht. Ursula erstickte.

Der Fall blieb Jahrzehnte offen.

2008 wurde ein Mann festgenommen und 2010 verurteilte ein Gericht ihn in einem Indizienprozess zu lebenslanger Haft.

Bis heute glaubt Ursulas Bruder Michael, dass der falsche Mann verurteilt wurde.


2. Die Indizien, die gegen den Verurteilten vorgebracht wurden

Indiz (laut Urteil)Kurze Einschätzung
Bekannter mit Spaten am Mofa gesehenKeine direkte Verknüpfung zum Tatort; schwach
Widerrufene Aussage über GrabungenWidersprüchlich, nicht belastbar
Bettlaken aus Halle verschwundenKein Materialabgleich, Massenware
Falsches AlibiUnglaubwürdigkeit, aber kein Beweis
Tonbandgerät mit akustischer ÄhnlichkeitMethodisch umstritten, nicht exklusiv
Schulden / VorstrafenMögliches Motiv, kein Tatnachweis
Fernglas / Hefte „ähnlich“Vage Erinnerungen, kein Direktbeweis
Technisches Wissen (Löten, Radio)Trifft viele in der Region; nicht exklusiv
Verhalten nach der Tat (Polizeifunk)Auffällig, aber kein Tatbeweis

Fazit: Kein einziges dieser Indizien ist exklusiv auf einen Täter rückführbar; kein physischer Beweis (DNA, Fasern, Farb-/Materialabgleich) verbindet den Verurteilten eindeutig mit der Kiste.


3. Die Spuren, die anderswo hinweisen

SpurBeschreibungBewertung
Bitumen-AnstrichAn der Kiste nachgewiesene, nicht handelsübliche Bitumenfarbe (industrieller Charakter)hoch
Klingeldraht140 m Draht in Tatortnähe; baugleich mit Draht, der später bei einem Internatsschüler gefunden wurdehoch
Stochastik-DurchdruckRückseite eines Erpresserbriefs zeigt Durchdruck, wie er in gymnasialer Oberstufe verwendet wirdhoch
TatortnäheLanderziehungsheim / Internat unmittelbar am Fundorthoch
WerkstättenzugangInternatswerkstätten (Holz, Metall, Elektrik) — Zugang zu Werkzeugen und Materialmittel
FamilienverbindungenKinder aus Unternehmerfamilien in Internat; Zugriff auf Fachmaterialien möglichmittel

Fazit: Diese materiellen und kontextuellen Spuren (Bitumen, Draht, Schulniveau der Schreibspuren und Nähe des Internats) bilden eine kohärente Spur, die methodisch stärker ins Internatsumfeld weist als auf den verurteilten Einzeltäter.


4. Zwei Szenarien – Gegenüberstellung und Plausibilität

MerkmalEinzeltäter (verurteilter Täter)Internat / Schüler mit technischem Zugang
Tatortnähe3 km entferntdirekt angrenzend
Materialzugangkeinervorhanden (Bitumen, Draht, Werkstatt)
MotivGeldnotGruppendynamik, Experiment, Erpressung, fahrlässiger Tod
Technische Umsetzunguntypisch für Einzeltäterplausibel als Gruppenprojekt
Ermittlungsintensitätmassivkaum vorhanden
Forensische BelegekeineMaterialspuren passen (Bitumen, Draht)

Ergebnis:
Das zweite Szenario ist mit den objektiven Spuren deutlich kompatibler.
Schon 1981 hätte eine neutrale Analyse – Bitumenfarbe, Draht, Kistenbauweise – dorthin führen müssen.
Es geschah nicht. Und es geschah auch 2008 nicht, als der Fall neu aufgerollt wurde.

27 Jahre Zeit, um die Spuren zu prüfen – ungenutzt.


5. Spuren, die niemand verfolgen wollte

Unter den Schülern des Internats befand sich auch der Sohn eines regional bekannten Unternehmers, dessen Firma in den frühen 1980er-Jahren auf Straßenmarkierungen spezialisiert war.
Das Unternehmen stand seinerzeit in engem Kontakt zur Landespolitik und verfügte über Materialien, die mit jenen übereinstimmen könnten, welche später an der Fundkiste sichergestellt wurden – darunter eine spezielle Bitumenfarbe, die damals nicht im Handel erhältlich war.
Später machte der Unternehmer auch durch „internationale Geschäfte“ Schlagzeilen.

Es bleibt bis heute unklar, warum diese mögliche Spur – ebenso wie die Verbindungen des Internats zur Region und zu den beteiligten Ermittlern – damals offenbar keine größere Aufmerksamkeit erhielt. Auch der Bruder des Opfers kritisiert, dass dieser Teil der Ermittlungen nie mit der gebotenen Konsequenz verfolgt wurde.

Unter den gegebenen Umständen wäre es für Schüler mit familiären Verbindungen in den Straßenbau deutlich einfacher gewesen, an solche Spezialfarben zu gelangen – individuell gemischte Bitumenanstriche, die im normalen Handel gar nicht erhältlich waren – als für einen Einzelnen ohne entsprechenden Hintergrund oder Zugang.


6. Forensisch-objektive Bewertung

Wenn man das rein kriminalistisch-objektiv bewertet – also nur auf Basis der bekannten Beweisdichte, Exklusivität der Indizien und der Widerspruchsfreiheit der Tatlogik – ergibt sich ein sehr klares Bild.

Ich gehe hier nach dem üblichen Maßstab, den forensische Gutachter oder Cold-Case-Analysten benutzen würden:

🔹 1. Tatsächlich objektiv belegte Spuren gegen den Verurteilten

  • Keine DNA-, Faser- oder Materialspur an Kiste, Briefen oder Tatort
  • Kein Geständnis; keine Täterkenntnis in Gesprächen
  • Kein forensischer Nachweis, dass das Tonbandgerät die Erpresseraufnahmen erzeugte
  • Kein Tatwerkzeug oder Tatmaterial aus seinem Besitz identifiziert

Rein forensisch: keine Spurbeweise, keine physische Verbindung zur Tat.

🔹 2. Indizienqualität (18 Punkte aus dem Urteil)

GewichtungAnteilBeweiswert
stark (objektiv, exklusiv)00 %
mittel (mehrdeutig)2–3~15 %
schwach (psychologisch, sozial, Hörensagen)15~85 %

Von den 18 Indizien, die zur Verurteilung M.s führten waren also gerade einmal drei, wohlwollend betrachtet, zumindest von mittlerer Qualität, wenn auch mehrdeutig. Der Großteil allenfalls schwach bis subjektiv. Ja, M. mag kein angenehmer Zeitgenosse sein – siehe die Episode mit dem Hund in der Gefriertruhe -, aber das ist eben kein Beleg für eine Täterschaft.

🔹 3. Tatlogische Plausibilität

Ein Einzeltäter hätte innerhalb kurzer Zeit eine komplexe Kiste bauen, im Wald vergraben, Belüftung und Signaltechnik installieren und gleichzeitig Anrufe/Briefe koordinieren müssen – ohne Spuren, Helfer oder Zeugen.
Motiv „Schulden“ – Aufwand und Risiko stehen in keinem Verhältnis.
Die Tatstruktur (technische Konstruktion, Erpressung) spricht für mehrere Personen mit unterschiedlichen Fähigkeiten.

🔹 4. Vergleich mit Standard-Beweislast

In vergleichbaren Fällen mit Indizienverurteilung liegt die objektive Beweiswahrscheinlichkeit meist bei 90 % und höher.
Im Fall M. ergibt sich – selbst bei wohlwollender Annahme – nur 15 – 25 %.
Das heißt: objektiv besteht eine dreiviertel bis vierfünftel Wahrscheinlichkeit, dass er nicht der Täter war.

Zusammenfassung

BewertungskriteriumEinschätzung
Forensische Beweislageextrem schwach
Exklusivität der Indizienpraktisch keine
Tatlogik (Einzeltäterhypothese)unplausibel
Gesamtwahrscheinlichkeit seiner Täterschaftca. 20 % ± 5 %
Wahrscheinlichkeit, dass er unschuldig istca. 75 – 80 %

Nach objektiver Indizienlage war die Verurteilung forensisch nicht tragfähig.
Die Wahrscheinlichkeit, dass er der Täter war, liegt deutlich unter 1 : 4.

Doch wenn er es nicht war – wer dann? Eine kriminalistische Plausibilitätsbewertung der möglichen Szenarien liefert ein klareres Bild.

Bewertung der Tat- und Täterhypothesen – Teil 2

HypotheseBeschreibungPlausibilität (kriminalistisch)Bemerkung
Einzeltäter M.Fernsehtechniker mit Schulden, angebliches Tonbandgerät, vages Motiv Geld.20 % ± 5 %Kein physischer Beweis, keine Täterkenntnis, Tonbandspur methodisch schwach. Der Aufwand der Tat steht in keinem Verhältnis zu seinem Profil.
Zweitäter- oder NachbarschaftshypotheseMazurek + Helfer (z. B. Freund P.), gemeinsame Planung.25 % ± 5 %Möglich, aber alle realen Spuren (Material, Technik, Ort) sprechen dagegen.
Internats-/JugendhypotheseSchüler des nahen Landerziehungsheims; Zugang zu Werkstätten, Material und Tatort. Mögliche Verbindung zu Straßenbau über Familie.45 – 55 %Technisch, örtlich und forensisch am plausibelsten. Deckt Bitumen, Klingeldraht, Stochastik-Spur und Tatlogik (Gruppenaktion) ab.
Unbekannte Dritte (externe Täter)Externe Kriminelle, zufällige Tat, keine Verbindung zur Region.< 10 %Kein Hinweis auf Fremde, Tat zeigt Ortskenntnis und planmäßige Vorbereitung.

🔹 Gesamteinschätzung:
Die Internatshypothese ist nach heutiger Indizienlage mit Abstand die plausibelste.
Sie erklärt:

  • die Materialspuren (Bitumen, Draht, Holzbauweise),
  • die Nähe zum Tatort,
  • die technische Kompetenz,
  • und die Inkonsistenzen in der Ermittlungsarbeit.

Sie ist die einzige, die eine kohärente Tatlogik ergibt, ohne dass man psychologische oder spekulative Brücken schlagen muss.


7. Warum das Nichtverfolgen der Internatsspuren unverständlich bleibt

Die charakteristische Bitumenbeschichtung war auch 1981 chemisch analysierbar. Man hätte Lieferketten prüfen, Firmenproben vergleichen, Werkstätten durchsuchen und Zeugen befragen können.
Dass dies nicht geschah – weder damals noch 2008 – lässt nur zwei Erklärungen zu: grobe Inkompetenz oder bewusstes Wegsehen.

Die damaligen Ermittlungen ignorierten also genau jene Fährten, die am ehesten überprüfbar gewesen wären – Material, Nähe, Wissen, Zugang.

Hier überlagern sich mehrere Ebenen:

a) Ermittlungspolitik und Hierarchie (1980er-Jahre)

In Bayern – besonders Anfang der 1980er – herrschte ein starker institutioneller Konservatismus. Ermittler handelten unter dem Einfluss von Politik und öffentlicher Erwartung.
Ein Verdacht gegen Schüler aus wohlhabenden Familien eines angesehenen Internats war politisch unattraktiv, potenziell karriereschädigend und gesellschaftlich unerwünscht.
Man suchte nach einem „klaren Täterbild“ – einem Außenseiter, nicht nach Söhnen aus guten Häusern.

b) Institutionelle Selbstverteidigung

Spuren Richtung Internat hätten Behörden in Erklärungsnot gebracht:
Warum hat man das Gelände nicht durchsucht? Warum keine Fingerabdrücke genommen?
Das Eingeständnis solcher Versäumnisse wäre ein Eingeständnis strukturellen Versagens gewesen.
Stattdessen wurde die Ermittlungsrichtung früh festgelegt – und blieb es über Jahrzehnte („Bestätigungsfehler“).

c) Soziale Protektion

Wenn in einem kleinen Ort ein Landerziehungsheim existiert, in dem Kinder aus einflussreichen Familien sind – und einer dieser Väter ein gut vernetzter Unternehmer mit politischen Kontakten ist –, dann entsteht ein impliziter Schutzmechanismus:
Niemand will „da reingraben“.
Nicht unbedingt durch aktive Vertuschung, sondern durch vorauseilende Loyalität und Unwillen, Ärger zu verursachen.

d) Wiederaufnahme 2000er – juristische Engführung

Als der Fall 2008 neu aufgerollt wurde, stand weniger Wahrheitssuche als Verfahrensabschluss im Vordergrund.
Man wollte endlich ein Ergebnis präsentieren.
Ermittlungen Richtung Internat hätten bedeutet: alte Akten öffnen, unangenehme Fragen an Landesbehörden, neue Verdächtige – politisch und juristisch unattraktiv.
Also konzentrierte man sich auf den leicht zu fassenden, „passenden“ Verdächtigen: einen Schuldenmacher aus der Nachbarschaft.


Fazit

Wenn man alle Fakten ohne ideologische oder emotionale Brille betrachtet, ergibt sich ein klares Bild:
Die wahrscheinlichste Täterschaft liegt im Umfeld des Internats – ob als absichtlich geplante Erpressung oder als fahrlässig eskaliertes „Experiment“.
Dass diese Spur nie ernsthaft verfolgt wurde, ist kein Zufall, sondern das Resultat eines gesellschaftlichen Schutzreflexes, wie man ihn in Bayern (und nicht nur dort) oft sieht:
Man schützt den eigenen Ruf, bevor man die Wahrheit sucht.


8. Schluss

Das Bild aus meiner Kindheit hat zwei Seiten: die Unschuld, die in der Kiste starb, und die Sprache der Justiz, die bis heute schweigt.
Ursula Herrmann verdient, dass man die Spuren, die zu ihr führten – und jene, die zur Wahrheit führen könnten – endlich ernst nimmt.
Ihr Bruder glaubt bis heute an einen Justizfehler, und die Indizienlage gibt ihm recht genug, um neu zu ermitteln.

Die Frage ist nicht nur, wer die Kiste gebaut hat – sondern warum man nie dorthin sah, wo die Spuren wirklich führten.
Solange das niemand tut, bleibt auch die Wahrheit verscharrt – im Wald zwischen Schondorf und Eching, und mit ihr ein beschämendes Kapitel bayerischer Justizgeschichte.


Podcast-Tipp zum Mordfall „Ursula Herrmann“

Der Podcast beleuchtet den Fall mit neuen kriminalistischen Augen. Ex-Kriminalist Wolfgang Benz ordnet die alten Ermittlungen ein und benennt deutlich, wo sie versagt haben: beim ungesicherten Klingeldraht, der ignorierten Bitumenspur und den nur vage belegten Indizien gegen Werner M.
Besonders interessant ist die alternative Spur zum nahegelegenen Internat – mit Werkstätten, Materialzugang und Schülern aus einflussreichen Familien. Auch die Möglichkeit einer Verwechslung des Opfers wird diskutiert.
Der Podcast kommt zu keinem endgültigen Urteil, zeichnet aber das Bild eines Falls, in dem zentrale Spuren nie konsequent verfolgt wurden.

Der im Podcast befragte Kriminologe kommt am Ende zu einem ähnlichen Schluss:
Die Spur zu den Materialien aus dem Straßenbau, dem Internat und dem damaligen Schülerumfeld hätte längst überprüft werden müssen.

Besonders deutlich wird das, wenn man den Aussagen des Materialexperten folgt:
Die Bitumenbeschichtung an der Kiste war keine handelsübliche Farbe, sondern ein industrielles Spezialprodukt, wie es nur in Straßenmarkierungsbetrieben verwendet wurde – einschließlich einer kieselgurhaltigen Mischung, die für Privatleute praktisch unerreichbar war.

Dass diese konkrete Spur über Jahrzehnte nicht weiterverfolgt wurde, ist kaum erklärbar – außer durch eine Mischung aus Bequemlichkeit, Voreingenommenheit und dem Unwillen, in unbequeme Richtungen zu ermitteln.

Author: -th-

Jahrgang 1976, Musiker, Mentalist und Autor mit ausgeprägter Neigung zu sinnlosen Fakten und sinnvollen Meinungen. Lebt in Köln, ist aber keiner von dort – was ihm die Stadt erstaunlich wenig übelnimmt. Unverheiratet, aber in einer festen Beziehung mit Film, Serie und Hörspiel. Wenn er nicht auf Bühnen steht oder in Tastaturen hämmert, schwafelt er über Kabarett, alte TV-Schätze und die Welt im Allgemeinen – vorzugsweise bei einem gut gelaunten Kölsch. Hält sich selbst für witziger, als er tatsächlich ist, findet das aber völlig in Ordnung.

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