Vorwort
(geschrieben 2025 zum Originalartikel von 2010)
Ich habe diesen Text im Jahr 2010 geschrieben – aus Wut über eine Gesellschaft, die Kinder nur dann schützt, wenn ihr Leid spektakulär genug ist, um Schlagzeilen zu machen.
Fünfzehn Jahre später hat sich wenig zum Besseren verändert: Die Manipulation und Verrohung, die ich damals kritisierte, sind heute digitalisiert – durch Plattformen, Algorithmen und Influencer perfektioniert.
Empörung ist allgegenwärtig geworden, aber oft nur noch flüchtig: ein Aufschrei pro Hashtag, ein moralisches Feuerwerk ohne Folgen.
Kinderarmut, Desinformation und emotionale Verwahrlosung existieren weiter – subtil, alltäglich, unspektakulär.
Was ich damals schrieb, gilt noch heute: Empörung muss im eigenen Umfeld beginnen – und sie muss Konsequenzen haben.
Originalartikel (2010)
Veröffentlicht am 16. April 2010
Immer, wenn wieder ein Fall von Gewalt gegen Kinder durch die Medien geht, ist die Republik lautstark empört.
Das ist natürlich richtig, verständlich und wichtig. Aber ich frage mich dann immer:
Wo sind diese empörten Stimmen, wenn Kinder von der Wirtschaft manipuliert, ausgebeutet und zu Konsumjunkies verzogen werden?
Wo sind diese empörten Stimmen, wenn Kinder besonders durch das sogenannte „Kinder/Jugendprogramm“ der privaten Fernsehsender systematisch verblödet, emotional abgestumpft und zur nur für den Absatz von überflüssigen Konsumgütern bestimmten Werbezielgruppe degradiert werden?
Und wo sind diese empörten Stimmen, wenn gewissenlose und profitsüchtige Musikproduzenten Kindern mit ihrer Musik vermitteln, dass Gewalt die einzige Lösung ist, dass Frauen rein sexuelle Lustobjekte ohne Würde und Rechte sind und dass man sich Respekt durch Verbrechen, Gewalt und Demütigung anderer verdient?
Wo zum Teufel sind diese Empörten, wenn schmierige Boulevardmedien das Schicksal von getöteten, misshandelten oder entführten Kindern gewissenlos ausschlachten, privateste Angelegenheiten der Opfer auf Titelseiten zerren und intimste Details zur Befriedigung der niederen Instinkte des Pöbels veröffentlichen?
Und wo, frage ich, wo sind diese empörten Stimmen, wenn Kinder mitten in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, ohne eine Chance auf Bildung, gesunde Ernährung, eine erfüllte Kindheit und Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft?
Wo sind die Stimmen der Empörung, wenn Kinder auf versifften Betonwüsten spielen müssen, weil kein Geld für Spielplätze, Grünflächen oder Jugendklubs da ist, da Städte und Kommunen ihr Geld lieber in Prestigeobjekte investieren?
Und wo sind die Empörten, wenn Eltern ihre Kinder vor Fernseher und Videospiele abschieben?
Ist das kein Missbrauch, keine seelische bzw. psychische Gewalt? Ist das nicht das, wovor wir eigentlich Kinder schützen sollten? Haben wir uns etwa mit diesen Formen der Gewalt und des Missbrauchs von Kindern abgefunden, weil sie alltäglich und wenig spektakulär sind?
Wie moralisch intakt ist eine Gesellschaft, die sich über extreme Gewalt gegen Kinder empört, die subtilere und perfidere Gewalt aber anscheinend stillschweigend toleriert?
Sind die einen Kinder mehr wert als die anderen, weil die Gewalt, die ihnen angetan wurde, medienwirksamer und weiter weg von der eigenen Realität ist?
Wie legitim ist Empörung von eben den Boulevardmedien, die das Schicksal dieser Kinder hemmungslos ausbeuten?
Doppelmoral scheint heute eher die Regel als die Ausnahme zu sein.
Man muss sich immer empören, wenn Kindern Gewalt in irgendeiner Form angetan wird – auch Unterdrückung, Armut und Manipulation gehören dazu.
Wir alle wären gut beraten, uns nicht nur in extremen Fällen der Gewalt gegen Kinder zu empören, sondern in jedem Fall!
Aber das würde ja bedeuten, sich jeden Tag aufs Neue empören zu müssen, und das ist vielen wohl zu anstrengend.
Es würde auch Verzicht bedeuten.
Verzicht auf Boulevardblätter à la BILD, die Opferschicksale ausweiden.
Verzicht auf TV-Programme, deren Ziel es ist, Kinder zu manipulieren, zu verrohen oder zu verdummen.
Aber wo ist die Bereitschaft zu dieser Empörung und zu diesem Verzicht?
Wahrscheinlich ist es für viele einfach bequemer, sich ab und zu zu empören, wenn wieder ein Fall von Gewalt gegen Kinder die Schlagzeilen bestimmt – und ansonsten in der eigenen „heilen Welt“ zu leben und die altbewährten Scheuklappen zu tragen.
Ich aber finde: Empörung muss im eigenen Umfeld beginnen – und sie muss geäußert und gelebt werden!
Wie viele der Täter, die Gewalt an Kindern verübt haben, waren als Kinder selbst Opfer von Gewalt?
Und unsere Kinder bekommen heute durch falsche Vorbilder und Medien Gewalt, Verrohung und Egoismus als Lebensentwurf serviert.
Missachtung der Würde und Rechte anderer wird ihnen suggeriert.
Wie viele Taten hätten verhindert werden können, wenn sich jemand empört hätte, als er mitbekam, dass der Junge im Nachbarhaus von der Mutter geschlagen wurde?
Wie viele Täter züchten wir heran, weil wir uns jetzt, hier und heute nicht empören wollen und uns damit zufriedengeben, empört zu sein, wenn mal wieder einem Kind so massiv Gewalt angetan wurde, dass die Tat ihren Weg in die Medien fand?
Kindern wird in unserem Land jeden Tag so viel subtile Gewalt angetan, die wohl niemand sehen will.
Niemand empört sich.
Nein, empört ist man, wenn die alleinerziehende Mutter ihr Kind über ein Jobangebot vom Arbeitsamt stellt: Diese Schmarotzerin liegt uns auf der Tasche!
Wenn engagierte Eltern und Pädagogen gegen einen Musiker sturmlaufen, der in seinen Texten Gewalt gegen Frauen verherrlicht und Verbrechen glorifiziert, dann werden sie von den Medien lächerlich gemacht oder ignoriert.
Es ist an der Zeit, sich mehr zu empören – und das nicht nur in medienwirksamen Fällen.
Denn nur wenn die Stimmen laut genug sind, werden sie auch gehört!